In meiner Serie zum Umgang mit komplizierten Mitarbeitenden wie mir geht es heute um eine eigentlich durchweg positive Eigenschaft: Ich ertrage keine Ungerechtigkeit, auch wenn sie mich selbst nicht betrifft. Traurigerweise macht mich das für manche Arbeitgeber schwierig.
In einem früheren Job stand für meine Kollegin und mich am gleichen Tag eine Gehaltsverhandlung mit unserer Führungskraft an. Wir hatten beide die exakt gleiche Position und eine sehr ähnliche Ausbildung und Berufserfahrung. Auch wenn ich das natürlich nur subjektiv bewerten kann, würde ich sagen, wir erfüllten unsere Aufgaben gleich gut, auch wenn natürlich jede von uns unterschiedliche Stärken und Schwächen hatte. Zudem verstanden wir uns gut, auch über das Berufliche hinaus, und redeten über fast alles. Bei uns im Unternehmen waren Gehälter theoretisch ein Tabu, aber wir würden uns dennoch erzählen, was in der Gehaltsverhandlung herausgekommen ist. Und ich wusste: Wenn die Gehälter unterschiedlich ausfallen sollten, dann würde das unser gutes Verhältnis stark belasten. Denn es gäbe keinen rationalen Grund dafür, uns unterschiedlich zu bezahlen. Kurz: Es wäre einfach nicht fair. Und selbst wenn ich diejenige gewesen wäre, die mehr verdient, hätte ich mich damit nicht wohlgefühlt. Ich wäre sogar bereit gewesen, auf die Differenz zu verzichten.
„Ich will, dass wir gleich viel verdienen“
So ähnlich sagte ich das meiner Führungskraft in der Verhandlung, was diese plötzlich ins Stottern brachte. „Das bringt mich jetzt in eine schwierige Situation“, sagte sie, „ich darf dir jetzt nicht sagen, was ich mit der Kollegin vereinbart habe, auch wenn ich weiß, dass ihr nachher sowieso darüber redet.“ Ich kann die Verunsicherung meiner Führungskraft durchaus nachvollziehen, schließlich hat sie es sich als mittleres Management auch nicht ausgesucht, dass es bei uns keine Gehaltstransparenz gab.
Der Vorwurf geht hier also nicht an meine Führungskraft, sondern an die Unternehmensstrukturen. Mein Wunsch nach Fairness sollte niemanden in die Ecke drängen, sondern selbstverständlich sein. Weil meiner Meinung nach sowieso klar sein sollte, wer wieviel verdient und warum. Und dennoch war ich in dieser Situation wieder die „schwierige“ Mitarbeiterin, die ihre Führungskraft in ein Dilemma bringt. Hätte die Organisation faire Strukturen, dann wäre ich nicht schwierig!
Der Schleier des Nichtwissens
Was gerecht ist, lässt sich meiner Meinung nach mit einem Gedankenexperiment des US-amerikanischen Philosophen John Rawls herausfinden, das wir hier kurz zusammen durchführen können. Stell dir vor: Du sollst mit anderen Menschen gemeinsam Regeln und Prinzipien für eine gerechte Gesellschaft festlegen. Aber: Du weißt noch nicht, wer du in dieser Gesellschaft sein wirst. Du weißt nicht, ob du reich oder arm sein wirst, ob du gesund oder krank bist, ob du in einer privilegierten oder benachteiligten Familie geboren wirst, welches Geschlecht, welche Religion, welche Hautfarbe, welche Intelligenz du haben wirst. Du stehst hinter einem „Schleier des Nichtwissens“, weil du beim Entwerfen der Gesellschaft nichts über deine spätere Position weißt.
Ich hörte davon zum ersten Mal in der Oberstufe im Ethikunterricht, wo wir das Gedankenexperiment in Gruppenarbeit durchspielen sollten. Ich weiß noch, wie eine Klassenkameradin, ohne lang zu zögern, sagte: „Na dann müssten einfach alle gleichgestellt sein.“ So ähnlich sah es auch Rawls. Seiner Theorie nach würden wir gerechte Regeln wählen, wenn wir unter solchen Bedingungen Gesellschaftsregeln aufstellen müssten. Niemand will das Risiko eingehen, benachteiligt zu sein. Wenn du zum Beispiel nicht weißt, ob du arm oder reich sein wirst, würdest du wahrscheinlich dafür sorgen, dass auch arme Menschen fair behandelt werden; etwa durch soziale Sicherheit und gute Bildungschancen für alle. Rawls bricht sein Ergebnis auf zwei zentrale Prinzipien herunter:
1. Gleichheitsprinzip
Alle haben gleiche Rechte und Freiheiten, wie zum Beispiel Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit.
2. Differenzprinzip
Ungleichheiten sind nur dann erlaubt, wenn sie den am schlechtesten Gestellten nützen. Zum Beispiel sind höhere Löhne für medizinisches Personal okay, wenn alle davon profitieren, etwa durch bessere medizinische Versorgung.
Fairness heißt also nicht, dass alle gleichbehandelt werden, sondern dass nachvollziehbar ist, warum Unterschiede bestehen.
Wir brauchen Allys!
Dieses theoretische Modell lässt sich auch auf unser tägliches Handeln übertragen. Das zeigt ein Youtube-Video, das immer wieder in meinem Linkedin-Feed auftaucht, besonders eindrücklich. Es spielt in einer Jura-Vorlesung, in der der Dozent eine Studentin ohne Angabe von Gründen auffordert, seine Vorlesung zu verlassen und nie wieder zu kommen. Anschließend fragt er, ob sein Verhalten unfair gegenüber der Studentin war. Die verbleibenden Studierenden reagieren mit schüchternem Kopfnicken. Dann fragt er, warum niemand eingegriffen hat. Schweigen im Hörsaal. Der Dozent setzt an: „Weil es euch nicht betroffen hat.“ Nicht zu protestieren, nur weil die Ungerechtigkeit uns selbst nicht trifft, sei ein großer Fehler, behauptet er. Denn: „Wenn ihr nicht helft, für Gerechtigkeit zu sorgen, dann werdet ihr selbst vielleicht eines Tages Ungerechtigkeit erleben und dann wird niemand für euch aufstehen. Es ist unsere Pflicht, für andere da zu sein, für andere laut zu werden, wenn sie es nicht können.“ Er wolle die Studierenden dazu ermächtigen, für das aufzustehen, was richtig ist, auch wenn das bedeutet, gegen den Strom zu schwimmen.
Was der Kurzfilm meiner Meinung nach zeigt, ist die Bedeutung von Allys. Allys (deutsch: Verbündete) sind Personen, die sich aktiv und bewusst für benachteiligte oder diskriminierte Gruppen einsetzen, obwohl sie selbst nicht direkt von der Diskriminierung betroffen sind. Sie nutzen die eigene gesellschaftliche Position, Reichweite oder Privilegien, um auf Missstände aufmerksam zu machen, Betroffene zu unterstützen und Strukturen zu verändern.
Fairness ist ein Win-win
Ich habe selbst bereits Ungerechtigkeit erfahren; hauptsächlich Sexismus und Benachteiligung aufgrund meiner Neurodivergenz. Gleichzeitig bin ich in vielerlei Hinsicht privilegiert. Aber ich würde diese Privilegien jederzeit aufgeben, wenn dafür wirklich alle Menschen – inklusive mir selbst natürlich – ein Leben in Würde und Wohlstand führen könnten. Bis dahin möchte ich, wo ich kann, dazu beitragen, dass die Welt ein Stück gerechter wird. Ich verstehe einfach nicht, warum so viele Organisationen weiterhin Ungerechtigkeiten strukturell befeuern – zum Beispiel durch intransparente Gehaltsstrukturen. Wenn ihr fair seid, dann haben angeblich schwierige Mitarbeitende wie ich auch Lust, für euch zu arbeiten. Und mehr als das: Wo weniger Diskriminierung und Mikroaggressionen sind, können sich auch alle anderen auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist. Mein Streben für Gerechtigkeit sollte niemanden in eine schwierige Situation bringen und mich nicht zur schwierigen Mitarbeiterin machen. Was aber heißt Fairness konkret im Unternehmenskontext? Hier ein paar Leitlinien.
Was eine faire Organisation ausmacht
1. Transparenz
Besonders wichtig finde ich wie gesagt Gehaltstransparenz – denn nur, wenn wir wissen, was andere verdienen, wissen wir auch, ob wir angemessen bezahlt werden. Aber auch Offenheit bezüglich Umsätzen, Plänen und Personalentscheidungen gegenüber allen Mitarbeitenden sind essenzieller Bestandteil einer fairen Organisation.
2. Inklusion
Es ist fast schon ein bisschen zu offensichtlich, um es explizit zu schreiben: Schafft eine Unternehmenskultur, in der wirklich alle gesehen und gehört werden und sich einbringen können – und zwar in allen sieben Dimensionen der Vielfalt. Auch wenn ihr denkt, bestimmte Personengruppen gibt es bei euch doch sowieso nicht. Denn vielleicht gibt es sie in Zukunft.
3. Allyship
Alle Personen, die gewisse Privilegien genießen, vor allem aber Führungskräfte, sollten genau diese Privilegien nutzen, um sich für diejenigen einzusetzen, die in mancher Hinsicht benachteiligt sind. Wie es in dem Video heißt: Ihr wisst nie, ob die Diskriminierung vielleicht das nächste Mal euch trifft. Dann werdet ihr für eure Allys dankbar sein!
Was bedeutet Fairness für euch? Wie geht ihr damit um, wenn euch jemand unfair behandelt? Oder wenn ihr Ungerechtigkeit in eurem Arbeitsumfeld beobachtet?
Und wie fair ist eure Organisation wirklich? Ich bin gespannt auf eure Kommentare!