Ehrlichkeit im Beruf – warum wir Professionalität neu definieren müssen

Wie viel Ehrlichkeit brauchen wir im Beruf?
Maske abnehmen oder nicht? Ehrlichkeit im Arbeitskontext kostet Mut – aber kann sich lohnen.

Lange galten Perfektion und glatte Fassaden als professionell. Das ändert sich gerade: Vor allem Linkedin ist inzwischen voll mit ehrlichen Geschichten über persönliche Herausforderungen, Krankheiten und Fehlschlägen. Ich möchte nun in einem Selbstexperiment testen, wie gut Ehrlichkeit im Arbeitskontext funktioniert.

Vielleicht begann die neue Ehrlichkeit mit der Erfindung der Fuckup-Night, 2012 in der Start-up-Szene von Mexiko City: Die Idee entstand aus dem Wunsch, nicht nur Erfolgsgeschichten, sondern auch persönliche Misserfolge und das Scheitern offen zu teilen und zu diskutieren. Den Wunsch kann ich gut nachvollziehen, denn auch ich habe keine Lust mehr darauf, so zu tun, als ob ich perfekt sei.

Was ich als 1989 geborene Millennial noch aus der Schule mitgenommen habe, ist, dass es im Bewerbungsprozess und eigentlich auch im gesamten beruflichen Kontext jede Menge Tabus gibt. Man soll bloß nicht zeigen, dass man etwas noch nicht weiß, noch keine Erfahrung hat, das halbe Jahr Weltreise sollte man lieber als „Weiterbildung in Interkulturalität“ tarnen, Krankheiten, Schicksalsschläge und andere private Probleme am besten komplett zu Hause lassen – und bloß keine Verletzlichkeit zeigen, das verwenden deine bösen Kollegys* am Ende alles gegen dich. All das hat mir den Eindruck vermittelt, ich müsste während der Arbeitszeit einen Teil meiner Persönlichkeit abspalten.

Keinen Bock mehr auf Business-Theater

Ich weiß nicht, ob uns die Fuckup-Nights oder einfach nur jede Menge mutige Personen gerettet haben, die auch keinen Bock mehr auf das tägliche Business-Theater hatten. Vielleicht hat auch die Pandemie ihren Beitrag geleistet, die durch den plötzlichen Rückzug ins Homeoffice die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben ins Wanken gebracht hat. Oder es war die stille Pandemie der psychischen Erkrankungen, die nicht mehr zu ignorieren ist und meiner Meinung nach Symptom eines tiefgreifenden Systemfehlers ist. Oder es war #Metoo und die damit verbundene Erkenntnis, wie wichtig es ist, das Schweigen zu brechen.

Aber mir fällt auf – und ich liebe die Entwicklung – dass Magazine und Blogs zum Thema Arbeitswelt sowie mein Linkedin-Feed plötzlich voll mit einer neuen Ehrlichkeit sind. Immer mehr Menschen sprechen offen über alles Mögliche. Nicht nur über gescheiterte berufliche Projekte, sondern auch über psychische Belastungen, private Krisen, Neurodivergenz, Diskriminierungserfahrung, chronische Erkrankungen und andere persönliche Herausforderungen – meist mit einer hoffnungsvollen Botschaft, die anderen Betroffenen Mut machen soll. Der Trend „vulnerable leadership“ erlaubt sogar Führungskräften, ihrem Team gegenüber eigene Fehler und Schwächen einzuräumen, statt sich stets aalglatt und allwissend zu präsentieren.

Diese mutigen Personen vereint eine wichtige Erkenntnis: Es ist die Kraft nicht wert, die es kostet, die eigenen Herausforderungen zu verbergen – kognitive Dissonanz, ein Zustand von unvereinbaren Gefühlen, Gedanken und Wünschen, ist laut Forschung eine der größten Stressquellen, die es gibt. Diejenigen, die ehrlich mit ihren Themen umgehen, erfahren meist Zuspruch und Unterstützung – zumindest von Personen, die begriffen haben, dass Offenheit über mentale Gesundheit und Neurodivergenz nicht nur den Einzelnen, sondern ganze Unternehmen und unsere Gesellschaft stärken kann. Unter anderem durch die Enttabuisierung psychischer Erkrankungen und die Akzeptanz neurodivergenter Perspektiven entsteht ein Arbeitsumfeld, das auf Menschlichkeit und Vielfalt statt auf Maskierung und Anpassung setzt.

Ehrlichkeit im Unternehmenskontext

Doch Ehrlichkeit ist mehr, als die eigene Maske fallen zu lassen. Mehr Ehrlichkeit kann Unternehmen auch auf organisationaler Ebene guttun. Das betrifft zum einen Gehaltstransparenz und offene interne Kommunikation über wichtige Unternehmensentscheidungen – beides Faktoren, die im Sinne von New Work für mehr Fairness und Teilhabe der Mitarbeitenden sorgen. Zum anderen betrifft es auch ganz simpel das tägliche Miteinander, im Sinne von „Radical Honesty“, dem Konzept des US-amerikanischen Psychotherapeuten Brad Blanton, dessen Retreats inzwischen kritisiert werden – unter anderem wegen sektenartiger Strukturen und Missbrauchsvorwürfen. Aber seine Theorie der radikalen Ehrlichkeit funktioniert – mit Vorsicht – genossen, natürlich trotzdem. Im Unternehmenskontext heißt das unter anderem: konfliktfähig sein, Grenzen aufzeigen, Unmut und Wünsche äußern können, eine gesunde Fehlerkultur leben. Denn was nicht ausgesprochen wird, manifestiert sich meist an anderer Stelle – und das ist meist nicht gut, denn „alles, was wir nicht aufarbeiten, verfolgt uns als Schicksal“ (das soll der Psychologe Carl Gustav Jung so in der Art gesagt haben).

Die Voraussetzungen für radikale Ehrlichkeit in Organisationen sind ein hierarchieunabhängiger Respekt voreinander und eine gewisse psychologische Sicherheit. In Konflikten steckt transformatives Potenzial, aber nur dann, wenn wir bereit sind, uns wirklich auf die Gegenposition einzulassen, einander zuzuhören, miteinander zu reden. Ehrlichkeit muss man sich leisten können und kann gerade in sehr autoritären Verhältnissen nicht entstehen, wie unter anderem Dana Buchzik in „The Power of No“ anmerkt. Denn wer schwere Sanktionen zu fürchten hat, wird sich wohl kaum trauen, authentisch und direkt zu sein. Darüber hinaus kann zu viel Ehrlichkeit natürlich auch destruktiv sein. Der Ton wird sowieso schon überall rauer und Ehrlichkeit soll nicht heißen, dass wir uns alle gegenseitig Beleidigungen an den Kopf werfen. Auch die sogenannten „weißen Lügen“, die andere vor Verletzung schützen sollen, sind in einem gewissen Maß absolut in Ordnung oder sogar empfehlenswert.

Macht Verletzlichkeit unverwundbar?

Doch in einer demokratischen Gesellschaft, die freie Meinungsäußerung garantiert, kann uns die Bereitschaft zu mehr Ehrlichkeit unter den richtigen Umständen sogar unverwundbar machen. Ich denke dabei wieder an die Mutigen, die offen über ihre persönlichen Herausforderungen sprechen und schreiben. Nehmen wir ein Beispiel: Eine Arbeitnehmerin spricht am Arbeitsplatz offen über die bei ihr immer wieder auftretenden depressiven Episoden, damit ihr Team und ihre Führungskraft Bescheid wissen, warum sie manchmal ausfällt. Daraufhin wird sie stigmatisiert, nur noch mit Samthandschuhen angefasst und bekommt weder die interessanten Projekte noch die Beförderung, da es für sie ja alles zu viel sein könnte. Wenn diese Person nun mutig ist, könnte sie ihren Fall beispielsweise auf Linkedin öffentlich machen. Das kostet sie möglicherweise ihren Job, aber dafür kann sie sich in ihrem nächsten Job sicher sein, dass der Arbeitgeber sensibel mit ihrer Erkrankung umgeht. Viel größer ist der Schaden für ihren ehemaligen Arbeitgeber, der damit stark an Reputation einbüßt. Unternehmen, die sich über solche Mechanismen bewusst sind, würden so natürlich nicht handeln – mal abgesehen davon, dass ein solches Verhalten von fehlender moralischer Integrität zeugt.

Aber wie gesagt, diese Unverwundbarkeit funktioniert nur unter bestimmten Umständen. Diese Form der Ehrlichkeit muss sich die Arbeitnehmerin auch leisten können – nicht für jede Person ist es so einfach möglich, im Zweifelsfall einen neuen Job findet, auch wenn alle vom Fachkräftemangel sprechen. Für Personen, die in sehr konservativen Branchen und Unternehmen Fuß fassen möchten, funktioniert das Vorgehen vielleicht auch nicht immer.

Aber worauf ich hinausmöchte: Eine Kultur der Ehrlichkeit zwingt uns alle dazu, die beste Version unserer selbst zu werden. Weil wir dann einfach nichts mehr machen, von dem wir nicht möchten, dass es gegen uns verwendet wird.

Ein Selbstexperiment

Ich wünschte, ich könnte diesen Post nun mit einer persönlichen Anekdote schließen, in der sich Ehrlichkeit im Job bewährt hat. Dafür fallen mir leider sofort jede Menge Geschichten ein, in denen Intransparenz, ein Mangel an Ehrlichkeit, für Probleme gesorgt haben. Aus meinem Privatleben hätte ich ein paar Geschichten, in denen Ehrlichkeit Verbindung geschafft hat, aber ich habe mich bisher noch kaum getraut, im beruflichen Kontext so richtig ehrlich zu sein. Das heißt nicht, dass ich lüge, sondern nur, dass ich bisher eben doch sehr bemüht war, die Fassade aufrecht zu erhalten. Doch ich habe wie gesagt keine Lust mehr auf das Theater.

Deshalb möchte ich deshalb in den nächsten Wochen auf Linkedin und auf meinem Blog ein Selbstexperiment starten. Ich werde in einer ehrlichen Beitragsreihe ein paar persönliche Anekdoten aus meinem Berufsleben teilen. Diese Beiträge enthalten gleichzeitig ein paar nützliche Tipps und Insights für HR und Führungskräfte geben. Bei all dem werde ich mich sehr verletzlich machen und ganz ehrlich: Ich habe ein bisschen Angst davor, denn ich habe keine Ahnung, ob mich das wirklich unverwundbar macht oder ob das Ganze nicht doch nach hinten losgehen wird. Bleibt dran – wir werden es zusammen herausfinden.

*Anmerkung: Ich habe mir auf meinem Blog für das Entgendern nach Hermes Phettberg entschieden. Die Form mit einem „y“ am Ende steht hier für die genderneutrale Form. Der österreichische Künstler und Schriftsteller Phettberg nutzte diese Form der genderneutralen Sprache bereits in den 1990ern, aber leider hat sie sich nicht durchgesetzt – vermutlich, weil viele sie zu „niedlich“ finden und meinen, man könne damit nicht ernst genommen werden. Ich persönlich halte sie für elegant und unterschätzt. Aber wenn ihr sie witzig findet, ist das auch in Ordnung, die meisten meiner Blogposts enthalten sowieso ein Augenzwinkern ;).

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